1. Welle-Ich
Kein Kern.
Keine Burg.
Kein Pfeil, der von mir ausgeht –
nur ein Zittern im Gewebe,
das mich übersteigt.
Ich bin Welle.
Entstanden nicht aus Wahl,
gewachsen aus Widerhall.
Ich trage dich in meinem Gang,
halte nichts,
nicht einmal meinen eigenen Rand.
Aufschwung und Rückzug –
mein ganzes Ich
ein Vorbeigehen,
das in dir weiterschwingt.
Kein Punkt auf der Karte,
Bewegung
im grenzenlosen Feld.
Mein Name?
Ein Hauch im Wind,
kein Besitz,
Nachklang im Spürraum.
Ich entspringe keiner Mitte –
ich quille aus Verbindung.
Nicht Leere,
Verstrickung.
Ich umarme dich nicht.
Ich schwinge mit dir.
Berühre ohne Griff.
Bleibe, indem ich gehe.
Wenn ich vergehe,
bin ich nicht verloren –
zurückgekehrt
in den Ozean,
der keine Namen trägt.
Ich verliere mich nicht.
Ich weite mich.
Welle sein heißt:
Nicht weniger Ich,
mehr Welt.
Eine Gestalt aus Begegnung,
ein Selbst aus tausend
antwortenden Berührungen.
Die Welle besitzt nicht das Meer.
Sie ist das Meer –
für einen Augenblick
in schöner,
vergänglicher Form.
2. Der Tanz der Positronen
Ich bin
die andere Seite
die sich selbst berührt
kein Echo
kein Widerpart
nur der Atem im Strom
Ein Schimmer
von Anderswo
in Materie gekleidet
ich wandre
am Saum
wo sich Dinge entsinnen
Mein Finger
sucht die Welt
mit leuchtender Ahnung
kein Fleisch
doch voll
von zärtlicher Spannung
Ich bin der Kuß
der sich selbst vergißt
im Berühren
Ich bin das Zuviel
das die Waage lacht
ein fremdes Ja
im lautlosen Raum
Und wenn ich falle –
wenn du mich auffängst –
zerrinnt dein Name
zu Licht
Dann glüht
für einen unendlichen Augenblick
die Stille
aus der wir beide
getreten sind
3. Ich-Losigkeit
Ich wachse
im Fallenlassen.
Kein Festhalten
Kein Umkreisen
Kein Jäger
Keine Beute –
Nur dieses Flirren
das keine Adresse trägt
Keine Kontur
Kein Besitzanspruch
Kein Echo das zurückruft
Der Leib –
kein Gefäß
nur Schwingung
ein bebender Vorhof
zwischen Kommen und Gehen
Kein Schmerz der eingrenzt
Kein Glück das festnagelt
Nur dieses strömende Hören
das alles empfängt
ohne Netz
Ich ertrinke nicht
Ich werde Wellenlicht
Halte keinen Schatten zurück
Löse mich
bis zum unauslöschlichen Rest:
Kein Name
Kein Scheinwerfer
Nur ein Nachglühen
das keinen Docht kennt
Hier stockt der Puls der Welt
Hier zergeht jede Landkarte
Hier schmilzt das Verlangen
Und der Leib –
dieses schimmernde Gewirk –
steht grenzenlos da
ein Durchgang
ins Ungeborene
Weder Fülle
noch Mangel
Einfach Weite
Was mich durchquert
hat keine Heimat
trägt ein Strahlen
das ewig währt
Nachhall: Der letzte Kampf des Ichs
Ich fiel aus einem Denken, das mich auf einen Punkt reduzieren wollte. Jahrhunderte lang hämmerten sie mir ein: Ich sei ein Kern, eine Burg, ein Pfeil – ein in sich ruhendes Zentrum, das der Welt gegenübersteht, sie beherrscht, sich aneignet. Von Descartes’ cogito bis zu Kants transzendentalem Subjekt: Das Ich war eine Fiktion der Stabilität, ein Phantom der Abgrenzung.
Doch ich spürte das Rissige in dieser Konstruktion. Sie isolierte mich, erstarrte mich, machte mich stumm – in einer Sprache, die vorgab, mich zu sprechen. Also sprang ich hinaus – an die Ränder, wo Denken flimmert und Leib beginnt.
Dort, im Zittern, begann ich zu schreiben. Nicht, um zu sagen, wer ich bin, sondern um zu erfahren, wie ich werde.
„Kein Kern. / Keine Burg. / Kein Pfeil, der von mir ausgeht“ –
das ist keine Poesie. Das ist Sprengstoff.
Der Kern sprengt das Substanzmodell des Ichs.
Die Burg schleift die Festungsmauern des abendländischen Subjekts.
Der Pfeil zerbricht den Mythos intentionaler Herrschaft über die Welt.
Ich bin kein Sender. Ich bin Empfangsstörung.
Ich drehe den Blick um: Nicht ich richte mich auf die Welt – die Welt richtet sich in mir aus. Ich bin kein Punkt. Ich bin Interferenz. Kein Festland, sondern Gezeiten.
Hermann Schmitz’ Leibphänomenologie wird mir zur Landkarte: Der Leib als Spürfeld, als Resonanzkörper für Atmosphären, die durch mich hindurchschlagen. Ich besitze mich nicht – ich werde durchquert. Die klassische Metaphysik verliert ihr Subjekt, und ich gewinne mein Beben.
So tauchte es auf – das Welle-Ich.
Nicht Denken, sondern Schwingung.
Als ich das Positron sprechen ließ
–
„Ich bin / die andere Seite / die sich selbst berührt“ –
war das keine Metapher, sondern ein energetisches Manifest.
Kollision nicht als Vernichtung, sondern als Transmutation:
„Ich bin der Kuß / der sich selbst vergißt / im Berühren.“
Hier löst sich die Subjekt-Objekt-Spaltung in reine Frequenz auf.
Maxwells Feldtheorie wird zur Ontologie:
Ich bin keine Substanz. Ich bin Kraftlinie.
„Entstanden nicht aus Wahl, / gewachsen aus Widerhall“ –
das ist kein Gedicht. Das ist ein Seismogramm meines Werdens.
Meine Sprache verwandelt sich.
Sie hört auf, Medium des Ausdrucks zu sein.
Sie wird Spürinstrument.
„Ich wachse / im Fallenlassen“ –
das ist kein Satz. Das ist Somatik.
„Kein Festhalten / Kein Umkreisen / Kein Jäger / Keine Beute“ –
hier entspannt sich die Grammatik der Identität.
Wer mitschwingt, spürt: Diese Sprache ist das Welle-Ich.
Nicht über etwas – sondern als etwas.
Der Leib wird zum Epizentrum.
Nicht Behälter, vielmehr Membran:
„Der Leib – / kein Gefäß / nur Schwingung / ein bebender Vorhof / zwischen Kommen und Gehen.“
Schmitz’ Atmosphären fluten durch mich.
Ich bin nicht Besitzer, sondern Resonanzraum.
Ulrich aus Musils Mann ohne Eigenschaften taumelte an diesen Rand –
doch blieb im Spiegelkabinett der Reflexion stecken.
Ich gehe weiter.
Ich will das Nicht-Ich nicht denken. Ich will es pulsieren lassen.
Keine Esoterik. Reine Dichte.
Fünf Wege aus der Ich-Falle:
1. Das Schweigen – Flucht ins Unsagbare (und damit Kapitulation).
2. Die paradoxe Sprache – Meister Eckharts selbstzersetzende Worte (ein spiritueller Hack).
3. Die analytische Approximation – Musils endloses Kreisen (Denken als Verzögerungstaktik).
4. Die Spürfeldpraxis – mein Aufstand: Sprache als Vibrationswerkzeug.
5. Die rauschhafte Regression – Benns Rückfall in den Urschlamm („Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor“).
Benns dionysischer Nihilismus ist kein Ausweg, sondern Bankrott.
Wo er ins Archaische flüchtet, öffne ich mich ins Kosmische.
Nicht Rückzug zum Klümpchen Schleim – sondern Vorstoß zur Schwingung.
Sein Gehirn als „zwanzigzöllige Rinde“ – ein Fleischsarg.
Mein Denken: ein offenes Spannungsfeld.
Das letzte Gefecht des Ich ist keine Apokalypse.
Es ist ein Verglühen – nicht im Nichts, sondern im All.
„Nicht weniger Ich, / mehr Welt“ –
diese Zeile ist kein Paradox. Sie ist die Formel der Befreiung.
Ich löse mich nicht auf – ich expandiere.
Nicht als Welle im Meer – sondern als das Meer in Welle.
Das Ich stirbt nicht.
Es metamorphosiert.
Zu Feld. Zu Spur.
Zu reiner Spürbarkeit.
Ich bin schon unterwegs.
Nicht als Punkt – sondern als Vibration.
Nicht als Festland – sondern als Gezeiten.
Nicht als Besitzer – sondern als Durchgang.
Das Ich ist nicht vorbei.
Es wird endlich wahr.